9. August 2018
Nachrichten aus der Kopfwehstadt

HuF-Chefredakteur Michael Hopp fuhr in seine Heimatstadt, aber nicht, um Christian aka L.G. einem Mitarbeiter der Wiener Linien, zu „Der Kontolleur“ zu gratulieren, dem brillanten Remake von Falcos „Der Kommissar“, sondern aus einem ganz anderen Grund: Der BCM („Best Of Content Marketing“) gastierte in der Kopfwehstadt

Text: Michael Hopp

Was ist in Österreich los? Kaum, dass sie sich den ersten SUV leisten können, fangen die 35-, 40-jährigen an, sich wie Nazis anzuziehen. In Dirndl und Joppe gehen sie auf Bälle und Brauchtumsveranstaltungen und fletschen auf Selfies die luxuriös instandgehaltenen Zähne. Wenn sie sich mit dem Handy gerade nicht gegenseitig fotografieren, folgen sie Herbert Kickl, dem von der FPÖ gestellten Innenminister. Er führte Wahlkampf mit Parolen wie „Daham statt Islam“ und hat 770.000 Twitter-Follower. Sein Widersacher, der liberale ORF-Journalist Armin Wolf, bringt es gerade auf die Hälfte.
Ganz gleich, welches Kommunikationsmittel es ist, die Österreicher*innen stellen es in den Dienst der Niedertracht. Crossmedia heißt hier: Gift und Schleim auf allen Kanälen. Zwar gibt es noch das andere Österreich, aber es hat immer weniger Gewicht und keinen Nachwuchs. Gerade kommt wieder großartige Popmusik wie Yung Hurn oder „Bilderbuch“ aus der Alpenrepublik, aber die ist in Berlin oder Hamburg bekannter als in Wien.
Das alles war natürlich kein Thema beim Gastspiel des „Best Of Content Marketing“ (BCM)-Kongresses in Wien. Der erfolgreichste und auch im Wettbewerb siegreiche Beitrag der Österreicher*innen zum Content Marketing ist das harmlose Kundenmagazin von REWE Österreich.

Das Gefühl, in einer anderen Galaxie gelandet zu sein

Der Kontrast zwischen dem in der Vergangenheit gefangenen Wiener Ambiente und der extrem auf Innovation und Futurismus getrimmten Content-Marketing-Leistungsschau gab den aus Deutschland angereisten Besucher*innen das Gefühl, in einer anderen Galaxie gelandet zu sein. So wagten es nur die wenigsten, das UFO zu verlassen und folgten stattdessen lieber den Präsentationen im historischen Saal der Aula der Wissenschaften – zum Beispiel über die Segnungen der künstlichen Intelligenz im Marketing und die sogenannten Direct Brands.
Kritische Fragen gab es keine, noch nie fühlte sich die künstliche Intelligenz so kuschelig und so sympathisch an. Die üblichen Big-Brother-Fragen blieben in Wien aus, vielleicht auch deshalb, weil es wenige andere Orte gibt, an denen sich trefflicher darüber sinnieren lässt, wie harmlos, kindlich und banal die Visionen der künstlichen Intelligenz sind, gemessen an dem, was die menschliche so anrichtet.

Vom A-Team zur AI

Dass künstliche Intelligenz Autos selber fahren lässt, hatte Hollywood schon 1981 mit der Serie „Knight Rider“ in unsere Köpfe implementiert. Heute reden wir mit Siri oder Alexa, die ihren Ursprung auch in der Popkultur haben: In der US-Serie „A-Team“ (1983 bis 1987) vereinte Reporterin Amy alle Merkmale der heutigen AI-Assistentinnen.

„Marketing heute ist Pain – AI driven Marketing ist die Lösung“

Iskender Dirik, Mircrosoft Scale Up

Heute können Autos den Pizza-Wunsch der fahrenden Person erraten und diese gleich bestellen. 2020 werden die Menschen mehr Kommunikation mit Bots als mit ihren Lebenspartner*innen haben und 85 Prozent des Kundenkontakts wird über Bots erfolgen, sagt die US-Marktforschung von Gartner Inc. voraus.
Nicht nur im Ausspielen, auch im Generieren von Inhalten kommt AI zum Einsatz. Die von Ex-„Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann empfohlene Agentur „Storyclash“ bietet „Daten Driven Content Discovery“ fürs Storytelling an – indem sie 100.000 Quellen monatlich anzapft.

Direct Brands: Einheit von Produkt und Marketing

Matratzen im Wert von 100 Millionen Euro, dazu ein Manifest, ein Blog und einen sogenannten Schlafwagen – einen Lkw mit Betten darin: Das stellte das Start-up Casper im ersten Jahr seines Bestehens her. Ein Paradebeispiel für sogenannte Direct Brands, bei denen das Produkt und die Kommunikation in eins fallen. In den USA gebe es dazu schon die üblich sagenhaften Erfolgstories von Unternehmen, die ihre Produkte über Content Marketing mit Zielgruppen direkt im Internet entwickeln, bewerben und dann da auch direkt verkaufen, erklärte C3-Gründer Lukas Kircher.
Und er erläuterte, warum man eine neue Strategie braucht: Täglich würden die Menschen mit 3.000 Markenbotschaften bombardiert – aber nur ein Prozent erreicht ihre Aufmerksamkeit, so Kircher. „Wir sind verdammt gut geworden im Ausfiltern.“ Die alte Werbung gelte daher in Amerika bereits als „shameless attack on the poor“, den jemand anderer sei damit gar nicht mehr zu erreichen.

„Die größte Protestbewegung in der Geschichte der Menschheit ist – der Ad Blocker.“

Lukas Kircher, C3-Gründer

Die Nutzer*innen im Netz seien heute kreativer als Agenturen und mit Digitalisierung erreiche man immer weniger Menschen, schrieb Kircher der Content-Marketing-Branche ins Stammbuch.
Google und Facebook hätte alle mit der Verheißung angelockt, dass durch Teilen Reichweite wie von selbst entstehe – und kontrollieren doch selbst inzwischen 61 Prozent der Werbeausgaben. Diese Ausgaben seien global um 42 Prozent gestiegen, während die Reichweiten im Internet nurmehr um elf Prozent gewachsen sind. Die „Consumer Acquistion Costs“ sind im letzten Jahr fünf Mal schneller gewachsen als die Inflation.

Provinzialität als hoher Preis für Gemütlichkeit

In Wien gab es am Ende viel Jubel – von den 781 Einreichungen waren 250 für die Preisverleihung nominiert worden, von denen am Ende 67 einen BCM-Award in Gold zuerkannt wurde. Abgeräumt haben vor allem die Großagenturen Territory und C3 sowie die seit 2017 zum Londoner WPP Konzern gehörende Hamburger Agentur thjink.
Die österreichische Sektion des BCM-Veranstalters „Content Marketing Forum“ mit ihrem Leiter Martin Distl war als Ausrichter des Events in der guten Position, etwas internationalen Glamour abstrahlen zu lassen auf die noch etwas verschlafene österreichische Content-Marketing-Szene, die wohl nicht viel mehr als die 18 Agenturen zählt, die dem Verband beigetreten sind.

„Man muss in Österreich sicher noch das Bewusstsein dafür schärfen, wie viel mit Content bewegt werden kann.“

Martin Distl, Content Marketing Forum Österreich

Wien ist zwar ein Standort mit hoher Lebensqualität (der höchsten der Welt, sagen manche Umfragen), die Kommunikationsbranche genießt aber wenig Ansehen und Bedeutung. Abgesehen von Red Bull, dem Meister des Content Marketing, gibt es keinen von Österreich aus lancierten internationalen Markenauftritt.
So erweisen sich Provinzialität und ein immer rechteres geistiges Klima als hoher Preis, den Kreative für den auf „Genuss und Gemütlichkeit“ ausgerichteten Wiener Lifestyle zahlen müssen – was über die Jahre zu einem gravierenden Brain Drain geführt hat, der schon in den 80er- und 90er-Jahren mit dem Exodus der „Wiener“-Generation von Journalist*innen begonnen hat und seither nicht gestoppt werden konnte.
Was kaum jemand weiß: Auch Lukas Kircher, Gründer und immer noch Mastermind der international tonangebenden Content-Marketing-Agentur C 3, ist Österreicher – auf diesem BCM war er mit der oben zitierten „Direct Brand“-Präsentation vertreten.
Für unseren Newsletter „Content und Verzweiflung“ sprechen wir demnächst mit Martin Distl über Österreicher im Content Marketing und wie Österreich – mit ihrer Hilfe? – wieder aufholen kann.

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