7. Februar 2019
„Die Wahrheit kann auch ein Gefängnis sein“

Fall Relotius vs. New Journalism: Unser Chefredakteur Michael Hopp erzählt, was ihn an der „Spiegel“-Affäre nervt und warum Subjektivität nicht gleich Lüge ist

Interview: Verena Fischer

Der Fall Claas Relotius im „Spiegel“ hat die ganze Branche beschäftigt. Was waren Deine ersten Gedanken dazu, Michael?

Als Journalist ist man natürlich nie ganz frei von Schadenfreude. Vor allem, weil mir das eitle Getue des „Spiegel“ und all die selbstverliebten Journalistenpreise eh auf den Keks gehen. Vielleicht auch nur, weil ich nie welche kriege, haha. Gleichzeitig war es auch shocking für mich, dass im Fall Relotius so lange nichts aufgefallen ist. Ich habe früher einmal für „Spiegel Reporter“ geschrieben und konnte den Anforderungen der Dokumentation kaum nachkommen. Satz für Satz wurde anklagend hinterfragt und am Ende war es eigentlich nicht mehr mein Text.
Dass angeblich keiner was gemerkt hat, deutet auf ein strukturelles Problem hin. Es gibt da sicher auch ungute Hierarchien. Der „Spiegel“ müsste sich bei der eigenen Nase nehmen, was nicht passiert ist. Kein Leitender ist gegangen oder musste gehen. Und jetzt ist Relotius der Sündenbock, gegen den sich ein internes Tribunal richtet. Das ist ein unbefriedigender Umgang mit dem Ganzen. Natürlich ist aber auch eine gewisse Demut angebracht, nach dem Motto „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“ Ich habe auch immer viel gedichtet, Gottseidank. Im Moment schreibe ich ein Buch, das auf Realitäten gründet – ich merke aber, wenn ich zu sehr an der Realität kleben bleibe, wird es nichts. Die „Wahrheit“ ist auch ein dunkler, finsterer Kerker.

Ist das jetzt auch ein Geständnis?

Die Affäre hat ja einen Verlauf genommen, der alle freieren Erzählformen in Misskredit bringt. Nur weil Relotius so vieles erfunden hat, wurde jetzt gefragt, ob Klassiker des New Journalism wie Tom Wolfe oder Hunter S. Thompson Lügner seien oder maßlos übertrieben haben. Mit dem New Journalism kam in den 70er-Jahren eine unheimlich spannende Vermischung zwischen Reportage und Literarischem nach Deutschland, an der wir uns mit „Wiener“ und „Tempo“ stark orientiert haben. Die Subjektivität habe ich damals total gefördert und mit eingebracht, daher kommt meine Betroffenheit. Der „Spiegel“ hat uns zunächst dafür ja verachtet, erst vor 15 Jahren hat er die erste Person, das erzählerische Ich, erlaubt, vorher war ja alles in so eine Formelsprache gekleidet, die Enzensberger mal als „konstruierte Realität“ bezeichnet hat.

Wie unterscheiden sich Subjektivität und Lüge?

Zu diesem Thema gab es einen tollen Beitrag von der „Süddeutschen Zeitung“. Der Autor Felix Stephan setzt sich in dem Artikel „Was man nicht sieht“ mit der Frage auseinander, mit welchen Mitteln wir Wahrheit zum Ausdruck bringen. Es geht dabei nicht um die philosophische Frage, was Wahrheit ist. Das lässt sich nicht aufklären, das wissen wir ja. Die Unterscheidung, zu der Felix Stephan kommt, ist die der subjektiven Wahrnehmung als fünftes Element der Wahrheit. Für mich ist dies der absolut beste Beitrag in der ganzen Diskussion. Vom „Spiegel“ kamen ausschließlich Schuldbekenntnisse, mit dem Drama, dass es ein paar Tage später schon niemanden interessiert hat. Ein armer Teufel ist nur der Relotius, den man so brutal opfert. Dabei ist er ein talentierter Schreiber. Er muss nur vom „Spiegel“ weg, das ist kein gutes Umfeld für sensible Menschen.

Warum lässt sich nicht sagen, was Wahrheit ist?

Wenn Hunter S. Thompson beispielsweise unter Drogeneinfluss über etwas aus der ersten Person berichtet, handelt es sich um seine wahrhaftige Wahrnehmung, die als solche zu respektieren ist. Der Unterscheid ist, Relotius hat aus dem Bewusstsein eines Anderen heraus geschrieben, zum Beispiel eines syrischen Flüchtlingskindes, und diese Interpretationen als Tatsache verkauft. Wenn man das zu Ende denkt, kann man den New Journalism aus der Diskussion rausnehmen. Über Wahrheit lässt sich eben streiten. Die Frage ist, an welcher Stelle muss man darüber richten, wann es zum Skandal wird. Wer sind dann die Opfer. Übrigens – ich kann auch nicht erkennen, wen Relotius geschädigt hätte.

Wo liegt die Grenze?

Wichtig ist, dass der Leser weiß, woran er ist. Bei Helge Timmerberg wäre niemand auf die Idee gekommen, seine Reisegeschichten aus dem Orient zu hinterfragen – weil sie als Geschichten funktionieren. Es ist ja eigentlich schon ein Sündenfall, wenn wir für journalistische und erzählerische Texte das gleiche Wort Geschichte bemühen. Beim „Spiegel“, mit seinem extremen, selbst definierten Wahrheitsanspruch, ist die Wahrheit nun irgendwie peinlich. Weil das ganze Konstrukt nicht stimmt. Roman Bucheli hat letzte Woche in der „Neuen Zürcher Zeitung“ geschrieben, der Königsweg der Dichtung hin zur Wirklichkeit ginge über die Lüge – oder vornehmer ausgedrückt, über die Imagination. Denn die Wirklichkeit kann nicht abgeschrieben, sie muss erfunden werden. Es ist ja auch eine Illusion zu glauben, wir seien Herr der Sprache. Oft sind wir auch ja auch Sklave der Worte, die wir finden, auch wenn sie nicht stimmen.

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