6. Februar 2017
Radikale Skepsis

Ein Plädoyer für mehr Blattkritik

von Volker Lilienthal

Lange galt das digitale Universum als reale Utopie für einen emergenten Journalismus, der das Projekt der Aufklärung  massenwirksam forciert. Und dem Grunde nach gilt das noch immer: Das Internet ermöglicht Recherche ohne Redaktionsschluss, aktualisierte Berichte, die prozesshaft fortgeschrieben und optimiert werden, es liefert Daten in Hülle und Fülle, bewusst publizierte und trickreich enthüllte. Über das Netz ist der digitale Journalismus in Echtzeit bei seinem Publikum – das es zu seinem produktiven, noch mehr wissenden und Impulse gebenden Partner auserkoren hat.

Doch haben wir lernen müssen. Das Internet wandelt sich – und nicht immer zum Guten. Es ist auch der Ort lautstarker Minderheiten innerhalb des Publikums, Podium für Hassredner, die dem seriösen Journalismus jegliche Glaubwürdigkeit absprechen und ihre eigenen Weltsichten verbreiten. Journalistische Webseiten werden attackiert: via DDoS, bis sie „down” sind, durch Markenklau, um im Umfeld einer anerkannten Medienmarke scheinbar normale Werbung platzieren zu können, und durch politisch motivierte Fälschung à la „Fake News”, um Journalisten unterstellen zu können, was sie nie meinten und wollten.

Das Internet – Dystopie für kritischen Journalismus?

Dass Fotografien nicht fälschungssicher sind, wissen wir seit Langem. Ein paar Klicks und der missliebige Politiker ist in einen ehrenrührigen Hintergrund hineinmontiert. Auf Photoshop folgt jetzt Adobe VoCo: 20 Minuten O-Ton-Material eines bestimmten Menschen sammeln, und aus der destillierten Datenbank lässt sich laut Adobe jedes beliebige Wort und aus den Wörtern jeder beliebige Satz synthetisieren. Journalisten könnten mit dieser Software fälschen, Blogger, Werber und Pressesprecher auch, Propagandisten sowieso. Etwas in den Mund legen: Das wird nun so täuschend echt möglich sein, dass das menschliche Ohr sich selbst nicht mehr trauen kann. Für das Auge gilt das schon länger.

Das Internet mutiert also zur Dystopie für kritischen Journalismus. Unweigerlich? Nein! Aber die Verfahren der Qualitätssicherung werden in dieser fälschungsanfälligen Medienumwelt des Unverbürgten noch wichtiger. Angefangen beim Quellencheck: Kann das wirklich stimmen? Eine zweite Quelle muss her. Besser noch eine dritte – und auch die unabhängig von der ersten! Ein Bild zeigt dies, ein O-Ton behauptet jenes? Skepsis war schon immer eine Grundhaltung von gutem Journalismus, nun muss sie radikal werden.

Vergessen wir nicht das Qualitätsmanagement vor der Publikation: Gegenlesen nach dem Vier-, besser noch Sechs-Augen-Prinzip, beherztes Redigieren, ein Meisterhandwerk, das gelernt sein will, beständiges Optimieren von Headline, Teaser, Bildzeile und anderem mehr. Nur das Zusammenspiel aller Elemente, möglich gemacht durch Qualitätsmanagement, gewährleistet Medienprodukte, die bei ihrem Publikum ankommen, weil sie verständlich, attraktiv und wertvoll sind.

Prof. Dr. Volker Lilienthal ist Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg. Dieser Text erschien in der HuF-Zeitung „Contact is Content”, die Sie hier herunterladen können.

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