Neurowissenschaftler Dr. Vikramjeet Singh im Gespräch
„Schlaganfälle bei Mäusen mit intakter Darmflora verlaufen sanfter“


In Deutschland erleiden rund 270.000 Menschen pro Jahr einen Schlaganfall. Wie das Darmmikrobiom den Verlauf beeinflussen kann – das erforscht der Neurowissenschaftler Dr. Vikramjeet Singh zusammen mit seinen Kollegen Prof. Matthias Gunzer vom Institut für experimentelle Immunologie und Bildgebung und Prof. Dirk M. Hermann von der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum in Essen. Im Interview verrät der Forscher, wie Gehirn und Darmmikrobiom einander beeinflussen, was dies für Schlaganfallpatienten bedeutet und welche Therapieoptionen in Zukunft denkbar sind.

Dr. Singh, Ihre Forschung an Schlaganfällen und Demenz hat Sie zur Untersuchung des Mikrobioms geführt. Warum?
Seit mehr 20 Jahren versuchen Forscher zu verstehen, wie sich Schlaganfälle auf das Immunsystem auswirken und wie dieses wiederum den Verlauf der Erkrankung beeinflusst. Klar ist mittlerweile, dass eine Überaktivierung von Immunzellen nach dem Infarkt maßgeblich dazu beiträgt, entzündliche Hirnläsionen zu verstärken und somit die Erholung nach einem Schlaganfall zu verschlechtern. Welche Faktoren es ganz genau sind, die die Immunzellen in der Akutphase aktivieren, ist aber nach wie vor unklar. Da sich eine große Anzahl der Immunzellen des Körpers im Darm befindet und dort das Bakterienwachstum und die Ausbreitung der Mikroorganismen aus dem Darm in den Körper begrenzt, kamen wir auf die Idee, die Wechselwirkungen zwischen Darmmikrobiom, Immunität und dem Gehirn nach einem Schlaganfall zu untersuchen.

Wie sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen und was haben Sie über die Rolle des Mikrobioms herausgefunden?
Wir haben anhand von Mausmodellen zunächst einmal untersucht, ob die Darmflora einen Einfluss auf den Verlauf von Schlaganfällen hat. Dafür haben wir Mäuse mit gesunder, reduzierter und solche ohne Darmflora eingesetzt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Schlaganfälle bei Mäusen mit intakter Darmflora sanfter verlaufen. Bei einer Gruppe von Mäusen, die keine Lymphozyten besaßen, ließ sich diese Schutzwirkung jedoch nicht beobachten. Daraus lässt sich schließen, dass die heilende Wirkung auf das Entzündungsgeschehen im verletzten Gehirn vor allem durch eine mikrobiom-induzierte Modulation der Lymphozyten zu Stande kommt.

Also hängt die Schwere eines Schlaganfalls auch von dem Zustand der Darmflora ab?
Genau. Andererseits ist es aber auch so, dass Schlaganfälle sich direkt auf die Bakterienflora im Darm auswirken und diese drastisch verändern. Wir haben beobachtet, dass Schlaganfälle die Diversität der Mikroorganismen im Darm deutlich verringern. Zum Beispiel ist der Stamm der Bacteroidetes anschließend stark in der Überzahl, was mit einer Dysfunktion der Darmbarriere und einer reduzierten Darmbewegung einhergeht. Die veränderte Bakterienflora löst dann eine T-zellabhängige Immunantwort aus, die für das bereits verletzte Gehirn schädlich ist. Gleichzeitig kann es zur Aktivierung von neutrophilen Granulozyten kommen, die eine toxische Wirkung auf das ischämische Gehirn ausüben und das Gewebe zusätzlich schädigen. In einer neuen Studie wollen wir verstehen, ob eine veränderte Mikroflora auch Neutrophile aktivieren und das Verhalten von T-Zellen weiter verändern kann und somit den Entzündungsprozess doppelt negativ beeinflusst.

Lassen sich aus Ihren Erkenntnissen neue Therapie ableiten?
Im Mausmodell konnten wir den Verlauf von Schlaganfällen abmildern, indem wir betroffenen Tieren das Mikrobiom gesunder Mäuse implantierten. In der Klinik gibt es ja bereits viele Ansätze, Darmerkrankungen bei Menschen mit Hilfe von Stuhltransplantationen zu therapieren. Bisher werden solche Ansätze noch nicht für neurologische Beschwerden wie Schlaganfälle eingesetzt. Das könnte sich in Zukunft durch weitere Forschung an der Darm-Immun-Hirn-Achse ändern.

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